Die Aktivistin Patricia Sánchez engagiert sich seit Jahrzehnten in Ecuadors Armenvierteln. Sie erklärt im Interview, was es braucht, um die soziale Ungleichheit im Land zu bekämpfen.
Erscheint Ihnen die Orientierung Präsident Noboas auf eine stärker militärische Lösung der Probleme in Ecuador sinnvoll?
Nein, sicherlich nicht. Man muss sagen, dass er im Moment fast von der ganzen Gesellschaft unterstützt wird. Denn die Gewalt ist so groß, dass das Militär in den Straßen die Menschen beruhigt. Aber es ist nicht die beste Option.
Wie könnte angesichts der aktuellen Situation die Rolle der Zivilgesellschaft aussehen?
Angesichts der enormen Welle der Gewalt und der brutalen Konflikte ist die Zivilgesellschaft total in die Enge getrieben. In diesem Moment müsste sie aber analysieren, welche Faktoren uns in diese Lage gebracht haben. Und dabei erscheint es mir ganz wichtig, den Konflikt nicht auf die Banden in den Armenvierteln zu reduzieren, sondern herauszuarbeiten, wie diese Gesellschaft strukturiert ist. Es ist eine extrem ungleiche Gesellschaft, total segregiert. Und die gesamte
Gesellschaft müsste darüber nachdenken, wie wir Prozesse einer realen Umverteilung des Reichtums initiieren können, damit wir nicht so viele bedürftige Menschen haben, sowohl in sozialer als auch in ökonomischer Hinsicht. Die soziale Ungleichheit macht es der Mafia sehr einfach, Jugendliche zu rekrutieren.
Der offizielle Auftrag der Armee lautet nun, mit den „Terroristen“ aufzuräumen, sprich mit den diversen Banden, die mit Drogenhandel und Gewalt assoziiert sind. Ist das ein realistisches Szenario in den Armenvierteln der Hafenmetropole Guayaquil?
Diese Banden sind tatsächlich in Erpressungen, Mord und Drogenhandel involviert und mit den internationalen Netzen der organisierten Kriminalität verwoben. Aber wer diese Banden als „Terroristen“ qualifiziert, gibt sie faktisch zur Ermordung durch das Militär frei, zur sozialen Säuberung. Vielleicht lässt sich eine ganze Generation auslöschen, aber es wächst ja schon die nächste und übernächste Generation unter den gleichen Bedingungen heran.
Wie könnte man stattdessen die Armenviertel befrieden?
Man müsste in Infrastruktur und Sozialleistungen investieren. Ausgangslage müssen die Bedürfnisse der Menschen sein, also keine Politik von oben. Was benötigt wird, ist sich vor Ort zu begeben und mit den Leuten konkrete Projekte zu entwickeln und diese umzusetzen, die Menschen fordern nicht viel.
Was fordern die Menschen konkret?
Grundlagen für das tägliche Leben, z. B. Trinkwasser. In Guayaquil leben fast 500.000 der drei Millionen Einwohner:innen ohne Zugang zu Trinkwasser, ohne grundlegende soziale Dienstleistungen wie öffentlicher Transport oder Schulen. Das brauchen die Leute.
Interview: Frank Braßel
Patricia Sánchez ist Architektin und engagiert sich seit Jahrzehnten in den marginalisierten Armenvierteln in Ecuadors größter Stadt Guayaquil. 2021-23 war sie Abgeordnete für die indigene Pachakutik-Partei im ecuadorianischen Parlament.
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